Interview mit Prof. Dr. med. Jutta Gärtner

Fragen an die Expertin: Prof. Dr. med. Jutta Gärtner ist Direktorin des Deutschen Zentrums für MS im Kindes- und Jugendalter.

Multiple Sklerose (MS) ist eine meist schubförmig verlaufende, chronisch-entzündliche Autoimmunerkrankung des zentralen Nervensystems. Das sind komplizierte Worte, deren Bedeutungen wir uns aber genauer ansehen sollten, um das Wesen der MS besser verstehen zu können.

Bei einer Autoimmunerkrankung richtet sich das Immunsystem fälschlicherweise gegen körpereigene Strukturen und zerstört sie. Im Fall der MS ist es das zentrale Nervensystem, also Gehirn und Rückenmark, das angegriffen wird. Dort bilden sich Entzündungsherde, die anschließend vernarben. Multiple Sklerose leitet sich vom lateinischen Wort „multiple“ = „vielfach“ und dem griechischen Wort „skleros“ = „hart“ ab und bedeutet übersetzt vielfältige Vernarbungen. Chronisch heißt, dass die MS nicht geheilt werden kann und sie die Patienten ein Leben lang begleitet. Mit schubförmig ist gemeint, dass Phasen, in denen Symptome neu auftreten, mit Phasen abwechseln, in denen die Krankheit zu ruhen scheint.

MS ist also eine lebenslange Erkrankung, bei der das eigene Immunsystem phasenweise Gehirn und Rückenmark angreift und schädigt.

Bei Jugendlichen in oder nach der Pubertät sind es meist einzelne, neurologische Störungen, die bei einem Schub im Vordergrund stehen. Möglich sind Sehstörungen, die aufgrund von Entzündungen des Sehnervs auftreten. Andere Symptome können Koordinations- und Bewegungsstörungen wie ein unsicherer Gang oder Lähmungen, aber auch Schwindel, Taubheitsgefühle und Missempfindungen wie beispielsweise Kribbeln sein. Bei jüngeren Kindern treten meist mehrere Symptome gleichzeitig auf.

Wir haben bereits gesehen, dass bei einer MS das eigene Immunsystem Strukturen in Gehirn und Rückenmark angreift. Wissenschaftler*innen haben sich die Vorgänge genauer angesehen und entdeckt, dass es Myelin und Axone sind, die geschädigt werden. Beide sind Bestandteile von Nervenzellen. Axone sind lange Fortsätze von Nervenzellen, die wie Nachrichtenkabel Informationen weiterleiten. Myelin ist eine Isolationsschicht, die sich um die Axone wickelt und eine ähnliche Funktion wie die Ummantelung von Kabeln innehat. Sowohl Myelin als auch Axone sind wichtig für die Weiterleitung von Informationen vom Gehirn in den Rest des Körpers und umgekehrt.

Greifen Immunzellen jetzt irrtümlicherweise Myelin und Axone an, so verursacht dies Entzündungen und Narben, die die Nervenfunktion stören. Das Gehirn kann nun nicht mehr ohne Probleme Informationen mit dem Rest des Körpers austauschen.

MS-Erkrankungen können individuell sehr unterschiedlich verlaufen, weshalb viele verschiedene Untersuchungen nötig sind. Da MS eine Erkrankung des Nervensystems ist, müssen für eine Diagnose Gehirn, Rückenmark und die Funktionsfähigkeit der Nervenzellen untersucht werden. Zuerst werden viele Fragen zur bisherigen Krankheitsgeschichte und zu vielleicht früher schon aufgetretenen Symptomen gestellt – das nennt sich Anamnese.

Dann folgen klinisch-neurologische Untersuchungen, in denen beispielsweise geschaut wird, ob die Patient*innen Probleme bei bestimmten Bewegungsabläufen haben. Wichtig ist auch eine Untersuchung mittels Magnetresonanztomographie (MRT). Dabei kann man mithilfe von Magnetfeldern und Radiowellen in das Innere des Körpers blicken und feststellen, ob sich in Gehirn oder Rückenmark Entzündungsherde oder Narben verbergen. Zusätzlich werden auch Laboranalysen von Nervenwasser und Blut durchgeführt.

Nach der Diagnose werden der Arzt oder die Ärztin sich mit den Patienten und deren Eltern darüber unterhalten, wie es nun weitergeht. Welche Behandlung ist die individuell beste? Sie erklären, was beachtet werden sollte, welche Hilfen und Unterstützungsmöglichkeiten es gibt und beantworten alle Fragen, die sich vielleicht noch stellen.

Es gibt eine Reihe von Medikamenten, die den Krankheitsverlauf positiv beeinflussen. Nach Diagnosestellung einer MS sollte eine immunmodulatorische Dauertherapie begonnen werden. Hierzu werden Medikamenten eingesetzt, die in der Lage sind, das Immunsystem in Schach zu halten und damit die Anzahl und Schwere von Schüben zu reduzieren.

MS ist leider bislang nicht heilbar. Eine Vielzahl von Behandlungsmöglichkeiten sorgt aber dafür, dass man mit MS in den allermeisten Fällen dennoch ein gutes und eigenständiges Leben führen kann.

MS kann bei jedem anders verlaufen, auch die einzelnen Symptome unterscheiden sich von Patient zu Patient. Bei Kindern und Jugendlichen treten meist Schübe auf, die sich mit beschwerdefreien Phasen, in denen sich die Krankheitssymptome auch komplett zurückbilden können, abwechseln.

Als MS-Schub bezeichnet man das Auftreten neuer oder bereits bekannter Beschwerden, die länger als 24 Stunden anhalten. Bemerkt man also beispielsweise Sehstörungen, Lähmungen oder Taubheitsgefühle, die zuvor noch nicht da waren und auch nicht schnell wieder verschwinden, kann es sich um einen neuen Schub handeln und man sollte seinen Arzt oder seine Ärztin aufsuchen, damit der Schub rechtzeitig erkannt und behandelt werden kann. Die Behandlung erfolgt meist mit Cortison.

Auslöser von Schüben können Stress, Schlafmangel und Zigarettenrauchen sein oder auch, wenn man seine Medikamente eine Zeitlang nicht mehr nimmt. Häufig weiß man jedoch nicht, was den Schub ausgelöst hat.

MS-Symptome können vielfältig sein, weshalb MS als "die Krankheit mit den 1.000 Gesichtern" bezeichnet wird. Typisch sind Sehstörungen durch Entzündungen der Sehnerven. Den Betroffenen scheint es, als würden sie durch trübes Milchglas schauen. Möglich sind auch Schwindel, Lähmungen, Taubheitsgefühle und Missempfindungen. Bei Letzteren kann es sich anfühlen, als würden unzählige Ameisen über die Haut krabbeln.

Auch wenn sich eine MS bei jedem Patienten anders zeigt, wird sie oft von gemeinsamen nicht eindeutigen Beschwerden wie Kopfschmerzen, Erschöpfung und Konzentrationsstörungen begleitet.

Zuallererst sollte ein Schub immer rasch mit Cortison behandelt werden. Cortison ist ein Hormon, das in ähnlicher Form auch vom Körper selbst produziert wird und entzündungshemmend wirkt. Die weitere Behandlung hängt dann von den einzelnen Symptomen ab. Möglich sind Medikamente zur Schmerzlinderung oder Muskelentspannung aber auch Behandlungen wie Physiotherapie. Auch bestimmte sportliche Aktivitäten wie Reiten, Tanzen oder Schwimmen können zur Therapie eingesetzt werden.

Nein, als Autoimmunerkrankung ist MS nicht ansteckend. Niemand muss befürchten sich durch Kontakt mit einer betroffenen Person mit MS anzustecken!

Sport ist bei MS nicht nur möglich, sondern sogar sehr gut. Viele MS-Beschwerden wie Erschöpfung, Schwäche oder auch Koordinationsprobleme können durch (moderaten) Sport gelindert werden. Schau einfach, was Dir Spaß macht und guttut. Deine Ärzten und Therapeut*innen haben bestimmt ebenfalls viele passende Ideen.

Auch mit MS kann man in den meisten Fällen die eigenen Berufswünsche verwirklichen. Umso wichtiger ist es, im Schulalltag nicht den Anschluss zu verlieren – selbst, wenn man mal wegen Schubsymptomen und Krankenhausaufenthalten aussetzten muss.

Schwierig kann es sein, wenn Deine Mitschüler und Lehrer nichts von Deiner Erkrankung wissen und deshalb Begleiterscheinungen wie Müdigkeit oder Konzentrationsprobleme als Desinteresse deuten. Es kann deshalb oftmals von Vorteil sein, offen mit der Erkrankung umzugehen. Auch ist es so viel leichter möglich, sich Hilfe beispielsweise beim Nacharbeiten von versäumtem Unterrichtsstoff zu holen.

Das Leben mit MS mag immer wieder eine Herausforderung sein, doch es lässt sich nicht vorhersagen, ob und inwieweit sie Dein Leben in Zukunft beeinträchtigen wird. Gerade die neuen MS-Therapien können die Erkrankung gut in Schach halten, so dass ein Leben ohne oder nur mit wenigen Beschwerden möglich ist. Auch wenn die Erkrankung nun ein Teil Deines Lebens ist, heißt dies nicht, dass sie Dein Leben bestimmen muss.

Wie genau Deine MS verlaufen wird, lässt sich nicht vorhersagen, aber die Wahl einer Berufsausbildung oder eines Studiums ist eine langfristige Entscheidung. Klug ist es deshalb sicherlich, die MS im Hinterkopf zu behalten. Ein sehr stressiger Beruf, bei dem man sich oder andere gefährdet, wenn man sich mal nicht 100%ig auf seinen Körper verlassen kann, wie beispielsweise als Pilot, mag dann weniger geeignet sein. Trotzdem sollte man versuchen, seinen Interessen zu folgen und seinen Traumjob anzustreben.

Auch mit MS kann man eine eigene Familie gründen. Weder beeinträchtigt MS Fruchtbarkeit oder Schwangerschaft, noch hat eine Schwangerschaft einen negativen Einfluss auf die Erkrankung. Gut ist es aber, im Vorfeld mit Arzt oder Ärztin zu besprechen, welche Medikamente abgesetzt werden sollten. Wichtig ist zu wissen, dass eine Veranlagung zur MS zwar vererbt werden kann, MS aber keine Erbkrankheit ist. Die allermeisten Kinder, bei denen ein Elternteil MS-Patient ist, werden niemals an MS erkranken.

Auf diese Frage eine Antwort zu geben, ist nicht einfach. Es gibt eine Reihe wissenschaftlich ergründbarer Faktoren, die den Ausbruch einer MS begünstigen: Veranlagung, Infektionen mit bestimmten Krankheitserregern, hormonelle Ursachen (erwachsene Frau erkranken öfter als Männer an MS) – aber nichts davon erklärt, warum es den einen trifft, den anderen aber nicht. Wahrscheinlich ist die ehrlichste Antwort darauf, dass wir es nicht wissen.

Hilfe bei einer MS-Erkrankung speziell im Kindes- und Jugendalter bekommst Du unter anderem im Deutschen Zentrum für Multiple Sklerose im Kindes- und Jugendalter (www. deutsches-zentrum-fuer-multiple-sklerose-im-kindes-und-jugendalter). Weitere Information für junge MS-Patienten erhält Du auch unter https://childrenms.de/ und auf den Seiten der Deutsche Multiple Sklerose Gesellschaft (DMSG) (https://www.dmsg.de/

). Hier findest Du auch Kontakt zu den DMSG-Beratungsstellen in deinem Bundesland: www.dmsg.de/die-dmsg/landesverbaende

Eine Klinik für Kinder und Jugendliche mit MS?

Das Deutsche Zentrum für MS im Kindes- und Jugendalter wurde im Jahr 2007 an der Universitätsmedizin Göttingen gegründet, unter der Schirmherrschaft des damaligen Niedersächsischen Ministerpräsidenten Christian Wulff, Schirmherr des DMSG-Bundesverbandes. Ein Zentrum dieser Art gab es zuvor nicht.

Das Zentrum wurde gegründet, um:

  • die Ursachenforschung bei kindlicher MS vorantreiben
  • spezielle Therapien zur Behandlung der pädiatrischen MS zu entwickeln
  • ein auf die Bedürfnisse von betroffenen Kindern und Jugendlichen sowie deren Eltern abgestimmtes Beratungs- und Therapiekonzept anzubieten
  • Betroffene, Ärzte, Therapeuten und die interessierte Öffentlichkeit zu informieren